Ein Sprung in die Moderne

Foto: 2022 Toyota Motor Sales, U.S.A., Inc.

Das Autojahr 1972 steht in enger Verbindung mit den gesellschaftlichen Veränderungen und scheint angesichts der Wirklichkeit des Jahre 2022 weit entrückt: Willy Brandt ist im dritten Jahr Bundeskanzler, die Entspannungspolitik entfaltet ihre Wirkung, neue Gesetze liberalisieren das gesellschaftliche Leben.

Zudem hat Deutschland schon zuvor begonnen, sich in Lebenshaltung und –Form erheblich zu verändern. „Das 19. Jahrhundert ist 1968 zu Ende gegangen“, formulierte es der bedeutende Bonner Politikwissenschaftlicher Karl-Hermann Bracher. Und dieser Aufbruch in eine neue, weniger autoritäre Zeit setzt sich 1972 beschleunigt fort. Äußerlich zeigt sich dies etwa bei den Olympischen Spielen, die Deutschland 29 Jahre nach Kriegsende ausrichten darf. Das Land präsentiert sich mit seinem Logo dazu in Regenbogenfarben frisch, freundlich und leicht. Und der Auto-Jahrgang 1972 ist ein Spiegel dessen: neue frische Modelle lassen alte Konzeptionen im Rückspiegel kleiner werden.

Kulturrevolution bei Mercedes

Mercedes-Benz geht voran: Die erste, explizit so genannte S-Klasse (W 116) ist ein Gegenwurf zum Vorgänger (W 108), insbesondere mit Fokussierung auf Sicherheit und Gestaltung. Die Horizontale dominiert Front und Heck, was große Knautschzonen ermöglicht. Geriffelte Rückleuchten verhindern Verschmutzung und sorgen für bessere Erkennbarkeit. Innen hat viel geschäumter Kunststoff Einzug gehalten – am Armaturenbrett und den Verkleidungen – ein Abschied von der Perfektion handwerklicher Fräsarbeit in Holz und Metall. Die neuen 280 S bis 450 SEL verkaufen sich blendend und sind bei den Besserverdienenden auf ihre Art „klassenlos“ – vom Handwerkmeister, über den Rechtsanwalt, den Unternehmensvorstand mit Chauffeur werden sie gefahren. Vor allem „Bonn“ liefert S-Klasse Bilder mit Dauer-Vorfahrten der Staatskarossen von Brandt, Schmidt und weiteren in „Tagesschau“ und „heute“. Die schlimmsten Bilder sind die einer zerschossenen S-Klasse des entführten und ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer im September 1977. Am anderen Ende des Automarktes überspringen das Auto des Jahres, der FIAT 127 und vor allem der neue Renault R 5 viele Schritte Richtung Sicherheit und Ressourcenschonung – „der kleine Floh“ (R 5) mit Kunststoff-Schürzen statt dünner Stoßstangen, mit hochgezogenen Heckleuchten – Innovationen, die von neuen Automodellen dann viele Jahre später übernommen werden – so wie etwa die S-Klasse W 126 ab 1979 mit ihren Kunststoff-Planken, der Volvo 850 Kombi von 1992 oder der neue Fiat Punto von 1993.

Steinalte VWs

VW hinkt Jahrzehnte hinterher, schwächelt 1972 mit steinalten Heckmotor-Fahrzeugen (bis auf den von NSU übernommenen K 70), auch wenn der Käfer (es ist ein Modell 1302) am 7. Februar 1972 als Nummer 15.007.974 den Weltrekord als meistproduziertes Auto der Welt dem Fort T-Modell abnimmt. Passat, Golf und Scirocco werden erst 1973/74 vorgestellt. VW will 1972 mit dem letztmalig neu aufgegossenen Käfer durchhalten, mit dem „03“, der alles andere als ein „007“ ist. Den 1303 kennzeichnen – Sicherheitsanforderungen des US-Exportmarktes lassen grüßen – eine Art Panorama-Scheibe und voluminösere Lampen, die sogenannten „Elefantenfüsse“ – so viel an Sicherheit, wie es eben in einer Konstruktion geht, die noch aus der Vorkriegszeit stammt. Wie gefährlich Autofahren ist, zeigen damals über 18.000 Verkehrstote p.A., aber auch die Häufigkeit von sichtbaren schweren Unfällen im täglichen Straßenverkehr.

Für Opel sind es herrliche Zeiten, weil die Rüsselsheimer nun mehr Autos in Deutschland verkaufen als VW. Dies liegt auch am neuen, fast schon italienisch anmutenden Rekord (D), der technisch eher eine Wiederholung des Vorgängers „C-Rekord“, aber jetzt mit einer grazilen Leichtigkeit eingekleidet ist. Diese stammt aus der Hand eines Amerikaners – Chuck Jordan. Er prägt damit das Design der darauffolgenden Opel-Modelle: Der C-Kadett ab 1973, die zweite Ascona- und Manta-Serie 1975 entwickeln wundervoll das „Mutter-Design“ des D-Rekords weiter. Ford dagegen „verpackt“ neue Technik – das aufwendige Fahrwerk mit Einzelradaufhängung statt Starrachse hinten – in barocker Hülle. Die Nachfolger von 17M/20M heißen Consul-/Granada sind mit viel Chrom, Lametta und „Orden“ eine Art barocker „Gegenreformation“. Erst 1975 wird der Granada „entchromt und entwappnet“, wie die Auto Motor Sport schreibt, der Consul entfällt. Barock gestaltet sind auch die ersten Japan-Importe Toyota Carina und Datsun Sunny, beide für rd. 7.000 Mark mit nahezu Komplettaustattung.

Audi – Vorarbeit für 30 Jahre

Foto: Pixabay

Unscheinbar kommt die Revolution bei Audi daher. Der Audi 80 ist keine Design-Ikone wie der RO 80 von 1967, eher einfach und schlicht, aber er beeindruckt durch hervorragende Raumausnutzung auf 4,20 Meter Länge, er ist agil und preiswert. Er hat nichts mit seinen „Mitteldruck“-Vorgängern gemein, er ist eine „Grundlagenarbeit“ vor allem für den VW-Konzern. Der Audi 80 ist auf eine andere Weise ein „Sicherheitsfahrzeug“, weil seine Machart die DNA der neuen „VW-Welt“ wird und sie radikal transformiert: Leichtbau, Frontantrieb, Ressourceneffizienz, ein moderner schlanker und sparsamer Motor. Schon ein Jahr später wird er von VW – mit einem schrägen Heck versehen und auch als Kombi angeboten – zum Passat. Viele weitere Komponenten nutzen dann Golf, Scirocco und alle VW Modelle bis in die 2000er Jahre. Der Motor E 827 ist ebenso Grundlage für den famosen Audi-Fünfzylinder, die sparsamen TDI-Modelle ab 1989 etc. Die neue Zeit leitet bei BMW die erste 5er-Reihe ein, die die „neue Klasse“ von 1961 (1500 bis 2000 Tilux) ablöst. Der 5er ist grazil und wegweisend für viele Jahre, wird nur mit einer Überarbeitung (1981) bis 1987 gebaut). Hier findet das stattliche (hier noch nicht Fahrer-geneigte) Cockpit erstmals Einzug, zudem wird die Nomenklatur der „Reihen“ eingeführt. 1972 haben die Autohersteller ihre Hausaufgaben gut gemacht, sie haben Grundlagen gelegt, von der die Unternehmen Jahrzehnte profitieren, die Profile der Unternehmen schärfen. Was aus der Rückschau beeindruckt, ist die Einfachheit der Moderne, kein Schwulst, kein Gramm Blech zu viel, Klarheit ohne Rückfahrkameras, keine Gestaltung der Abwehr und Distanz wie die heute dominierenden hohen Blechberge mit Schießscharten-Fenstern namens SUV.

Die dunkle Seite

1972 trägt aber auch den Keim der darauffolgenden rauen Jahre in sich – schon mit der Ermordung der israelischen Athleten durch palästinensische Attentäter in München, die den fröhlichen offenen Ansatz in das Gegenteil verkehren: Inflation, Ölkrise mit Fahrverboten, Terroranschläge fordern Gesellschaft und Politik. 1972 grüßt uns aktuell mit seiner dunklen, zugleich ermutigt es uns aber auch mit seiner heiteren Seite. Vicky Leandros gewinnt den Grand Prix D´eurovison mit „apres toi“, und eine junge deutsche Mannschaft gewinnt in Wembley gegen die UdSSR das Fußballeuropameisterschaftsfinale. Fußballer wie Beckenbauer, Müller, Netzer und andere belohnen sich mit neuen Sportwagen des Jahres 1972 wie Porsche 911 RS oder BMW 3.0 CSL – aber das ist eine andere Geschichte.

Unser Gastautor:
Peter Klotzki ist neben seinem Berufsleben seit seiner Jugend ein Liebhaber von „alten“ Autos, Experte auf diesem Gebiet, Sammler von klassischer Auto-Literatur und von etwas altem Blech sowie Mitbegründer und Vorstandsmitglied des historischen Automobilclubs Ritter von Kalebuz e.V. im ADAC Berlin-Brandenburg.